Der Weg zur Kandidatur
Politische Ausgangslage
Für viele überraschend hat in der schlewsig-holsteinischen Landtagswahl die SPD so viele Stimmen verloren, dass die dann stärkste Fraktion, die CDU, gemeinsam mit FDP und den Grünen eine sogenannte Jamaika-Koalition schließen konnte und Daniel Günther Ministerpräsident wurde.
Bei seiner Kabinettszusammenstellung fiel seine Wahl für das Justizministerium in Schleswig-Holstein auf die Bundestagsabgeordnete des Wahlkreises 1 Flensburg-Schleswig, Frau Dr. Sabine Sütterlin-Waack. Landesministerin und Bundestagsabgeordnete in Personalunion verträgt sich nicht, deshalb hat Frau Sütterlin-Waack ihr Bundestagsmandat niedergelegt und sich entschlossen, am 24. September 2017 nicht mehr bei der anstehenden Bundestagswahl zu kandidieren.
Zügig musste für die Bundestagskandidatur in diesem Wahlkreis Ersatz gefunden werden. Da die Landtagsabgeordnete Petra Nicolaisen aus Wanderup gerade bei der Landtagswahl direkt gewählt wurde, sie aufgrund sehr guter politischer Arbeit in der Region seit Jahren bekannt und hervorragend vernetzt ist, lag es für die beiden CDU-Kreisverbände nahe, sie zu bitten, erneut als Kandidatin anzutreten. Gesagt getan.
Gegenkandidaturen
Aber plötzlich meldeten sich aus Schleswig zwei weitere Kandidaten: Der Steuerberater Christoph Weitkamp und der Kommunalpolitiker Helge Lehmkuhl. Keiner aus Flensburg? Hat der Kreisverband Flensburg keinen passenden Kandidaten? Sind die Flensburger so „höflich“ eine Gegenkandidatur gegen die Wunschkandidatin sein zu lassen, um Geschlossenheit zu dokumentieren? Was macht eigentlich eine Demokratie aus? Mir sprangen solche Gedanken durch den Kopf. Lebt eine Demokratie nicht von Vielfalt und Wahlmöglichkeiten?
Politische Zukunftsthemen
Was sind denn die dringendsten Fragen für unsere Zukunft? Für die Zukunft unserer Kinder und Enkel? Thematisieren die bisherigen Kandidaten den gerade stattfindenden gravierenden Veränderungsprozess, die digitale Transformation? Nein. Hm. Und ich befasse mich täglich damit. Auch unsere Region wird nicht nur von Google, Facebook, Amazon, Microsoft, Apple oder Airbnb beeinflusst sondern zahlreiche Arbeitsplätze hängen an diesem Veränderungsprozess. Schaffen die Unternehmen der Region die Digitalisierung? Bleiben sie wettbewerbsfähig, wenn wir von Funklöchern umgeben sind und Breitband oder Glasfaser nur in der Stadt verfügbar sein werden? Was passiert mit dem ländlichen Raum? Noch sitzen dort international agierende, mittelständische Industriebetriebe. Wie lange noch, wenn die Digitalisierung nicht den Weg zu ihnen schafft? Müsste sich eine wirtschaftsfreundliche, wohlstandsorientierte Partei, wie die CDU, nicht einem solchen elementaren Thema auch in der Region annehmen wollen? Die großen politischen Weichen dazu werden am besten auf Bundesebene gestellt.
Entscheidungsfindung
Weil ich solche Themen im Freundeskreis schon mehrfach diskutiert hatte, bekam ich eMails und Anfragen über Messenger. „Du, Jens, Du bist doch schon ständig in Berlin. Du kennst die Strecke und die Funklöcher ;-)“, „Schmeiß da Deinen Hut in den Ring! Biete denen doch mal Deine Themen an! Ich würde Dich wählen!“, „Du bist dort Mitglied, oder? Du warst schon mal in der Kommunalpolitik, kennst das Organisieren von Mehrheiten. Nutze die Chance!“
Gegen Petra Nicolaisen und gegen die Wünsche der zwei Vorstände aus Kreis und Stadt antreten? Macht das Sinn? Innerhalb einer Woche dafür eine Mehrheit zu organisieren? Unmöglich.
Als erstes fragte ich meine Frau Sabine. Sie hat mich schon bei so vielen meiner „unmöglichen“ Ideen bedingungslos unterstützt. Ihre zentrale Frage an mich war: „Würdest Du Dich ärgern, wenn Du es nicht versucht hättest?“. Da konnte ich nur mit „Ja“ antworten. „Also mach‘ es“ war ihre Reaktion.
Soll ich wirklich ein Spiel spielen, das ich nicht gewinnen kann? Wer könnte mir außerdem diese Frage besser beantworten, als mein Ludologen-Team. Stefanie Talaska und Jonas Vossler sind wissenschaftliche Mitarbeiter in meinem Institut für Ludologie. Sie befassen sich, so wie ich, ständig mit Spielmechaniken, Spielkonzepten und Spieltypologien. Nach meinem Motto: „Fragen, die Dir helfen, solltest Du Dir nicht selbst beantworten“, fragte ich sie. Und sie sagten: Mach‘ es.
Das Demokratiespiel
Zu spielen bringt uns Menschen auf eine geistige Metaebene. Spielen nimmt uns raus der Wirklichkeit. Im Rahmen von erfundenen Ordnungen und regulativen Ideen bringen wir unsere Fähigkeiten ein, um ein Spielerlebnis auf Basis von Spielregeln innerhalb eines definierten Spielfeldes zu gestalten. In manchen Spielen gibt es Spielziele und ein Spielergebnis. Das trifft auf eine Wahl genauso zu wie bei jedem sportlichen Wettbewerb. Die Olympischen Spiele kennen noch drei Gewinner mit Gold, Silber und Bronze. Aber schon bei der Fußballbundesliga zählt, historisch betrachtet, nur der Meistertitel. Wer erinnert sich noch an Vize-Meister? The winner takes it all.
Wahrscheinlichkeiten
Was spricht also dafür, Verlierer zu sein? Der erste Grund: Ich könnte ja doch gewinnen. Wer nicht antritt, kann niemals gewinnen. Eine Restwahrscheinlichkeit, dass der Zufall, das Schicksal oder die Natur die Wahrscheinlichkeiten neu mischt, gibt es im realen Leben immer. Sind 0,5% Gewinnwahrscheinlichkeit ein ausreichender Grund? Hm.
Der olympische Gedanke: Sein Bestes geben
Kommen wir zum zweiten Grund: Allgemein formulieren wir den olympischen Gedanken als Gruppenerlebnis: „Dabei sein ist alles“. Ist das Leben eine Party? Hauptsache wir sind eingeladen und feiern mit den Siegern? Diesen tröstenden Ausspruch für die geborenen Verlierer soll es in dieser Form nie offiziell gegeben haben. Im Original und somit in der langen Version lautet der Ausspruch von Pierre de Coubertin (1863-1937) , dem Präsidenten des Olympischen Komitees 1908:
„Das Wichtige an den Olympischen Spielen ist nicht zu siegen, sondern daran teilzunehmen. Ebenso wie es im Leben unerlässlich ist, nicht zu besiegen, sondern sein Bestes zu geben.“
Sich anzustrengen, um überhaupt einen Wettbewerb zu ermöglichen? Stars können nur geboren werden, wenn sie Gegner haben. Opfer zu sein reicht nicht aus. Die Gegner sollten jedenfalls gleichwertig erscheinen, sich anstrengen. Aber was stellt eine „Gleichwertigkeit“ her? Dopingagenturen arbeiten daran, dies im Sport zu gewährleisten. Sie versuchen jedenfalls, unfaire Hilfsmittel auszuschalten und Verwender unterstützender Substanzen zu disqualifizieren.
Das Spiel schafft gleiche Ausgangsbedingungen
Kein Mensch ist gleich. Wir sind alle Individuen. Die natürlichen Unterschiede werden im Spiel nicht ausgeglichen. Ansonsten müsste ja der 100-Meter-Läufer, der etwas kürzere Beine als ein anderer Läufer hat, seine Startlinie einen Meter vorgerückt bekommen. Es ist ja aber auch gar nicht das Ziel, dass beide Läufer gleichzeitig die Zielline überschreiten. Der Wettkampf soll Unterschiede offenbaren und Gewinner küren. Die gemeinsame Startlinie ist bewusst gewählt, damit vielleicht der gewinnen kann, der besser trainiert hat. Und schon kann auch der trotzdem gewinnen, der kürzere Beine hat? Spannend…
Im politschen Wettkampf ist die gemeinsame Startline die Kandidatur im Vorlauf zur Wahlentscheidung. Das Training findet über Jahre statt. Manche nennen es Ochsentour. So wie untrainierte Läufer sehr unwahrscheinlich bei Olympia eine Goldmedaille gewinnen können, genauso unwahrscheinlich kann ein Quereinsteiger im ländlich geprägten norddeutschen Wahlkreis 1 Bundestagskandidat der CDU werden. Stop. Stimmt diese Analogie und Theorie?
Quereinsteiger Jens Junge?
Nachdem Wolfgang Börnsen diesen Wahlkreis fast 26 Jahre im Deutschen Bundestag vertreten hat, ist Dr. Sabine Sütterlin-Waack als Nachfolgerin gewählt worden. Sie war über 10 Jahre in kommunalpolitischen Entscheidungsgremien in Lürschau und im Kreistag aktiv und wurde dann mit dem Bundestagsmandat belohnt. Sie kommt aus einer „traditionellen“ Politikerfamilie. Ihr Lebenslauf und ihre Politikerinnenkarriere liest sich nicht wie ein Quereinstieg. Somit verweist Grund zwei auch auf Grund eins: Die Restwahrscheinlichkeit. Könnte Jens Junge theoretisch ein Quereinstieg gelingen? Das Undenkbare wird manchesmal doch möglich, s. Jamaika-Koalition in Schleswig-Holstein. Wer hätte das gedacht? Hm. Stichwort: Jamaika.
Bobmannschaft Jamaika
Die Wahrscheinlichkeit, dass bei den Olympischen Winterspielen die jamaikanische Bobmannschaft Gold holt, war 1988 bei ihrem ersten Start in Calgary sehr gering, trotzdem traten sie an. Hey, Jamaika, dieses Wort hatte ich nach den Landtagswahlen in Schleswig-Holstein so viel und so oft gehört und das Bild dieses aussichts- und chancenlosen Bobteams verschwand nicht aus meinem Kopf. Diese Jungs konnte man nur gern haben. Und es hatte nichts mit Mitleid zu tun.
So wie die Jamaikaner Seifenkisten für ein Rennen anschieben können und sich deshalb auch qualifiziert genug für ein Bobteam fühlten, weiß ich, dass ich auch etwas anschieben kann. Vielleicht wird mein dringender Appel zum Thema Digitalisierung gehört? Das Interesse wuchs, meinen Hut in Tarp in den Ring zu werfen und mein Bestes zu geben, wenn auch das Siegen oder gar Besiegen unmöglich erschien.
Unterstützer für’s Neuland
Die Menschen, die mich auf eine Kandidatur ansprachen, waren keine Mitglieder der CDU, also eigentlich für das anstehende Ereignis der Kandidatenkür irrelevant. Sie sorgten sich um die Themen der drängenden Digitalisierung und formulierten das Problem, dass innerhalb dieser Regierungspartei auch nach über 20 Jahren das Internet weiterhin als „Neuland“ (Satz des Jahres von Angela Merkel 2013) empfunden wird. Es war in meinem Freundeskreis bekannt, dass ich schon einmal in der Stadt für diese Partei von einem Plakat herunter lächelte (kurzzeitig blieben diese Plakate tatsächlich unzerstört hängen).
Ich hatte als Unternehmer zu viel über die städische Politik lauthals auf dem Flur des Deutschen Hauses in der „Alten Bücherei“ gemeckert, wo zeitweise mein Büro war. Nebenan hatte Thomas Dethleffsen sein Büro. In der ihm überaus freundlichen Art schnautzte er mich an, dass ich mich nicht beschweren soll. „Wer nicht mitmacht, soll nicht schimpfen.“ So war es um uns beide geschehen und wir zwei standen 2008 für die CDU im Kommunalwahlkampf und waren kurze Zeit später immer montags regelmäßige Besucher der Flensblurger CDU-Ratsfraktion im Flensburg-Zimmer des 13. Stockwerks im Rathaus.
Bis 2012 wirkte ich als bürgerschaftliches Mitglied im Bildungs- und TBZ-Ausschuss aktiv bei der Gestalung der Höhen und Tiefen des kommunalpolitischen Alltags mit. Dieses Engagement beendete ich, weil ich seit Ende 2011 in Berlin eine Professur übernommen hatte und so innerhalb der Woche an keinen Sitzungen mehr teilnehmen konnte.
Aber viele Akteure aus meiner damaligen Zeit waren weiterhin aktiv. Nachdem ich mir im privaten Kreis das „Mach‘ es“ eingesammelt hatte, war es mir wichtig, dass jedenfalls die Flensburger Fraktion mein (verrücktes) Vorhaben unterstützt. So saß ich eine Woche vor der Wahlkreismitgliederversammlung in der Fraktionssitzung, stellte mich für die Neumitglieder vor und dann mein Anliegen. Auch hier war der Tenor: Chancenlos, aber mach‘ es. Ich hatte einige Unterstützer für meine Kandidatur erhalten.
Wahlkampf für den Kandidaten Jens Junge
Unverzüglich begann mein „Wahlkampf“. Karsten Sörensen zog mich nach der Fraktionssitzung sofort vor seine Kamera, schickte Infos und Fotos noch am gleichen Abend an die Presse. Am folgenden Tag klingelte mein Telefon und der Lokalredakteur Carlo Joly vom Schleswig-Holsteinischen Zeitungsverlag interviewte mich. Jetzt war es in der Welt. Jens Junge kandidiert. Am Tag drauf erschien der Artikel: Ein Flensburger will in den Bundestag.
Ich dachte, der Artikel erscheint nur im Flensburger Tageblatt. Wer liest den schon außerhalb Flensburgs? Kleine Stadt, kleine Auflage. Ich glaubte nicht, dass der Artikel auch online erscheint. Tat er dann aber doch. „Ein Junge für Berlin“ wurde auch in Berlin gelesen. Als ich die Berliner Hochschule betrat, riefen mir sofort einige Studenten zu „Jens for President!“. Auf meinem Facebook-Account häuften sich die Fragen und Hinweise, so dass ich auch dort den Artikel zur Erklärung einstellte (s. Screenshot oben). Dann checkte ich kurz meine eMails.
Meine lieben Kollegen hatten schon eine Rundmail erhalten und wurden unverzüglich kreativ. Ich liebe meine Kollegen 🙂
All das, die zahlreichen Ermunterungen und Ermutigungen hatten nun leider nichts mit der Wahlkampfrealität zu tun. Kein wahlberechtigtes Mitglied der Wahlkreismitgliederversammlung der CDU des Wahlkreises 1 Flensburg-Schleswig wird von dem digitalen Wirbelsturm um mich herum etwas erfahren haben.
Zielgruppenansprache
Wie erreiche ich die passende Zielgruppe? Ich hatte einen Brief verfasst. Über die CDU-Geschäftsstelle wurden je Kandidat/Kandidatin einzelne gedruckte Briefe per Post an die Mitglieder verschickt. Die Kosten dafür hatte jeder Kandidat privat zu tragen. Porto wird nicht aus der Portokasse der Partei für Kandidaten bezahlt. So konnte ich sichergehen, dass jede(r) Wähler(in) ein paar Eckdaten zu mir schriftlich nach Hause erhalten hat. Wie stelle ich in dem Brief mein „Alleinstellungsmerkmal“ in Richtung Digitalpolitik dar, bei dem die Briefleser einen gedanklichen Anknüpfungspunkt finden?
Der aktuelle Generalsekretär der Bundes-CDU, Dr. Peter Tauber, besuchte Flensburg 2016 anläßlich der 70-Jahr-Feier für die CDU Flensburg. Peter steht für Digitalisierung, er ist einer der wenigen, dem das Thema verantwortungsvolle Digitalpolitik seit Jahren sehr wichtig ist. Gemeinsam mit Thomas Jarzombek gehörte Peter Tauber als Bundestagsabgeordneter zur Internet-Enquete-Kommission des Bundestages. Gemeinsam gründeten beide den CDU-nahen netzpolitischen Verein „CNetz e.V.“ 2012 mit Sitz in Berlin, dem Arne Rüstemeiner und ich zügig beitraten. Durch meine beruflichen Aufenthalte in Berlin konnte ich so an zahlreichen Veranstaltungen und Diskussionen teilnehmen.
Zur Illustration meines Themenschwerpunktes „Digital“ verwendete ich unser gemeinsames Foto für den Brief an die CDU-Wahlkreismitglieder. Darüber hinaus erwähnte ich mein politisches Interesse für die Europa- und Bildungspolitik. Die Reaktion auf diesen Brief, der hundertfach verschickt wurde, an jedes stimmberechtigtes Mitglied persönlich, war NULL. Obwohl ich sämtliche Kontaktdaten, inkl. Telefon und eMail in dem Schreiben mehrfach aufgeführt habe und einlud, sich bei mir zu melden, passierte nichts. Ein Signal?
Mein nächster Versuch, mit Mitgliedern ins Gespräch zu kommen, war der Ansatz, sie telefonisch erreichen zu wollen. Dem stand der Datenschutz entgegen. Die Kreisgeschäftsstelle dufte mir als Mitglied keine Telefonnummern anderer Mitglieder zur Verfügung stellen. Die in Sportvereinen üblichen Telefonlisten, zu deren Verbreitung jedes Mitglied seine Zustimmung erteilt hat, um erreichbar zu sein, gibt es in der Partei nicht. So sparte ich viel Telefonzeit und konnte mich auf die Vorbereitung meiner zehnminüten Vorstellungsrede konzentrieren.
Tag der Entscheidung in Tarp
11. Juli 2017. Landgasthof Tarp. Wahlkreismitgliederversammlung der CDU, Beginn 19:30 Uhr. Rund um den Landgasthof füllten sich sehr schnell ab 19 Uhr sämtliche Parkplätze. Aus dem großen Landkreis Schleswig-Flensburg und der Stadt Flensburg reisten insgesamt 455 CDU-Mitglieder an. Die Registrierung verlief schnell und reibungslos.
Wir vier Kandidaten standen aufgereiht am Eingang und versuchten jeden Besucher persönlich mit Handschlag zu begrüßen. Dabei empfing ich persönlich neben dem üblichen, freundlichen „Moin“ auch so manche andere Kommenntare, von „viel Glück“, „meine Stimme hast Du“, bis „Frechheit“. Es war warm und stickig, der Saal hatte keine Fenster. Die Stühle reichten nicht aus. Vom Nebenraum wurden weitere Stühle reingetragen und in die Gänge gestellt. Zum Glück war niemand von der Feuerwehr anwesend… mein Puls stieg langsam an. Ich war es bisher gewohnt, vor überschaubaren Menschenmengen von 20 bis 100 Personen zu reden, aber vor 455 stand ich noch nie.
Nach den Regularien trug als erstes Frau Dr. Sütterlin-Waack ihren kurzen Bericht vor, wie sie vom Bundestag ins Ministerium wechselte und wie es zum Jamaika-Bündnis zwischen CDU, FDP und den Grünen kam.
Die Kandidatenrede
Danach bat der (gefühlt ewige) Sitzungspräsident Johannes Petersen aus Glücksburg die Kandidaten in alphabetischer Reihenfolge auf, sich „kurz“, gerne kürzer als 10 Minuten, vorzustellen: Junge, Nicolaisen, Lehmkuhl und Weitkamp. Ich trat an das Rednerpult. In dem prall gefüllten Raum herrschte eine interessierte, ungewöhliche Stille. Waren die Zuhörer tatsächlich noch offen in ihrer Entscheidung? Suchten sie tatsächlich nach inhaltlichen Aspekten, die ihre Wahl beeinflussen könnten? Oder warteten sie nur höflich, bis ihre, ihnen bekannte, Petra Nicolaisen gleich auftreten würde?
Zum Zeitpunkt der Rede versuchte ich mir selbst einzureden, dass Naivität schützt. Ich musste mir meine Naivität erhalten, dass meine Ausführungen eine gewünschte Wirkung haben könnten. Meine Worte schafften es tatsächlich, machen Zuhörern einen Zwischenapplaus zu entlocken. Die Freude darüber durfte mich jedoch nicht von meiner Konzentration ablenken, deutlich und langsam zu sprechen. Viel betonter und langsamer, als im normalen zwischenmenschlichen Gespräch.
Die Länge und Heftigkeit des Abschlussapplauses versuchte ich in meinem Ohr zu behalten, um ihn gleich im Anschluss mit dem Applaus bei Petra Nicolaisen vergleichen zu können. Und ja, schon da fiel mir dann 10 Minuten später nach ihrer Rede auf, dass ich meinen Wahlwahrscheinlichkeitswert nicht mit meinen Ausführungen habe steigern können. Nach mehreren Klatscheinlagen innerhalb ihrer Rede wurde der Endapplaus langanhaltend. Die beiden anderen Kandidaten aus Schleswig mühten sich anschließend auch, kamen aber ebenfalls nicht über ein kurzes Höflichkeitsklatschen zum Abschluss hinaus. Es blieb in der Summe der Eindruck bei mir haften, dass es für die Wahl egal war, was ich, wie gesagt habe. Oder war meine Rede einfach grottenschlecht? Habe ich mich zu kompliziert ausgedrückt? Nicht die richtigen Themen angesprochen?
Die Wahl
Nein. Die Entscheidung, wer gewählt wird, wurde vor der Veranstaltung gefällt. Jedenfalls bei den meisten Anwesenden. Ich hätte einen Handstand oder einen Salto machen können, es hätte nicht viel verändert. Nachdem die Anwesenden ihre Stimmzettel abgegeben hatten, ergab sich eine längere Wartezeit, bis alle Stimmauszähler jeden Zettel eingesammelt und ausgewertet hatten. In dieser Zeit kamen einige Zuhörer auf mich zu, sprachen mich auf meine „gute“ Rede an. Ich war fast schon versucht, daran zu glauben, dass ich in einem zweiten Wahlgang in die Stichwahl mit Petra Nicolaisen gehen könnte. Nur fast. Ich blieb Realist, freute mich über die netten Kommentare, die aber zu selten damit endeten, dass die Gesprächspartner mir auch zusicherten, mich gewählt zu haben.
So kam es für Petra Nicolaisen zu einem überwältigendem Ergebnis, das Johannes Petersen verkündte:
- Christoph Weitkamp: 42 Stimmen
- Helge Lehmkuhl: 47 Stimmen
- Jens Junge: 59 Stimmen
- Petra Nicolaisen: 305 Stimmen
Petra hatte auf Anhieb mehr als 67% der Stimmen erhalten. Eine Stichwahl musste gar nicht mehr sein. So wie das Klatschen ausfiel, so eindeutig war das Wahlergebnis. Beide Vorstände und ihre Kandidatin hatten ihr Ziel erreicht.
Einige Flensburger Kollegen und Sitznachbarn sprachen mir Anerkennung und Respekt aus, dass ich es versucht hätte. Der 2. Platz sei ein Achtungserfolg. Dies sei ein fairer demokratischer Prozess gewesen. Sicherlich. Formal leif alles reibungslos. Aber ich fühlte mich halt wie das Bobteam Jamaika. Das Beste gegeben, aber ohne die zarteste Chance, etwas akzeptabel Messbares erreicht zu haben… 305 zu 59. Das klingt so wie Deutschland – Brasilien: 7 : 1. In diesem Demokratiespiel wurde ich deklassiert. Aber wusste ich es nicht vorher? Warum erstaunt es mich trotzdem?
Ich sollte mich doch freuen, ich habe dazu beigetragen, dass es jetzt einen Star gibt, eine Kandidatin, die mit dem Gefühl der starken Unterstützung in den Bundestagswahlkampf zieht, um den Wahlkreis 1 direkt für die CDU zu gewinnen. Außerdem könnte ich mich über die Berichterstattung freuen. Aufgrund der vier Bewerber stand die CDU viel öfter in der Zeitung oder auf Onlineportalen. Nach außen hat unsere Partei einen lebendigen Eindruck hinterlassen, hat gelebte Demokratie bewiesen. Alles gut, Jens Junge, freue Dich.
Im anschließenden Pressebericht in den Schleswiger Nachrichten fasst Alf Clasen den Abend journalistisch gut zusammen: „Großer Rückhalt für Petra Nicolaisen“.
Geschichte der Demokratie
Eines der menschlichen Grundphänomene neben Natur, Liebe, Arbeit, Spiel und Tod ist das „Herrschaftssystem“. Nach welchen Spielregeln sollen Machtstrukturen funktionieren? In Europa und Nordamerika hat sich die alte Idee der Griechen in der Zeit der Aufklärung neu herausgebildet: Die Herrschaft solle vom Volke ausgehen, Demokratie.
Mit der amerikanischen und der französischen Revolution 1776 und 1789 wurden autoritäre und feudale Herrschaftssysteme in Frage gestellt, gar unter Gewaltanwendung hinweggefegt. Der Adel als einzige „von Gottes Gnaden“ ernannte politische Führung hatte sich als unzeitgemäß herausgestellt.
Aus der jahrhunderte langen göttlichen Ordnung wurde offensichtlich eine neu erfundene Ordnung, die Freiheit, Brüderlichkeit und Gerechtigkeit als Ziel eines neuen Gesellschaftsvertrages beschreibt. Aber die Geschichte der Demokratie verläuft nicht linear, sie steckt voller Widersprüche und Konflikte. So wie Technologien die Wirtschaft treiben und verändern, so verändern auch wirtschaftliche und soziale Machtstrukturen gesellschaftliche Herrschaftsstrukturen.
Die Fortschritte der Demokratie erfolgten zumeist in Wellen nach großen historischen Ereignissen, verbunden mit zahlreichen Rückschlägen, so wie zum Beispiel in Deutschland 1848 (s. Paul Nolte: „Was ist Demokratie? – Geschichte und Gegenwart“, 2012). Die damals nach der gescheiterten Märzrevolution frustrierten Deutschen begannen massenhaft in das Land der „unbegrenzten Möglichkeiten“, in die USA auszuwandern (s. „Forty-Eighters„), getragen von dem Motto: Ubi libertas, ibi patria („Wo die Freiheit ist, dort ist mein Vaterland“). Die USA und Australien hatten damals noch keine Einwanderungsbeschränkung, keine Obergrenzen.
Demokratie ist keine Selbstverständlichkeit
Die nach dem mörderischen und schrecklichen II. Weltkrieg 1945 in Deutschland etablierte „freiheitlich-demokratische Grundordnung“ mit ihren Grundrechten, wie Meinungs- und Pressefreiheit, dem Rechtsstaat, freien Wahlen und den durch Parlamentarismus getragenen Landesregierungen und der Bundesregierung sind keine Selbstverständlichkeit. Das wird uns 2017 besonders bewusst, wo in den europäischen Ländern Polen (Jarosław Kaczyński) und Ungarn (Viktor Orbán) die demokratisch bewährte Gewaltenteilung in Parlament, Regierung und Justiz von den dortigen rechten Politikern und Regierungen untergraben werden sollen oder in den USA der Präsident Donald Trump darüber nachdenkt, sich und seine Familie selbst zu begnadigen, um sich vor der juristischen Verfolgung seiner Gesetzesverstöße selbst zu schützen. Oder wo ein türkischer Präsident Recep Tayyip Erdogan bestehende demokratische Spielregeln untergräbt sowie massenhaft Oppotionelle und Journalisten inhaftiert. Oder wo in Venezuela der Präsident Nicolás Maduro eine neue verfassungsgebende Versammlung mit seinen Parteigetreuen besetzt, um das bisherige demokratische System auszuhebeln.
Der „Siegeszug der Demokratie“, wie ihn viele Optimisten nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Herrschaftssysteme proklamierten, ist kein Naturgesetz. Die Demokratie hat schon viele Wandlungsprozesse und Krisen durchlaufen, sie ist ein immerwährender Suchprozess. Eine Schwäche von ihr scheint zu sein, dass sie manchmal so offen und konfliktfreudig ist, dass sie sich auch selbst wieder abschaffen könnte. Demokratie muss auch wehrhaft sein. Wo Populisten ihren persönlichen Vorteil in der Abgrenzung durch Nationalismus und der entsprechenden Abschottung sehen, weil sie leicht die menschlichen Ängste in Bezug auf Vielfalt und Andersartigkeit bedienen können, da wird der Fortschrittsgedanke ausgebremst. Wo ein sozialistischer Fortschrittsgedanke radikal umgesetzt werden soll, entsteht eine Diktatur.
Wir wissen noch nicht, wie ein neues, zukünftiges Herrschaftssystem im digitalen Zeitalter aussehen kann. Fest steht wohl jedenfalls, dass es nicht mehr die Idee eines einzelnen Menschen sein wird, keine Ideologie, die sich entwickeln kann, weil jemand ein Buch über das Kapital oder seinen Kampf geschrieben hat. Es müsste ein inter-, multi- und transdisziplinäres Unterfangen sein, mit einem möglichst weiten und vielfältigen Blick auf die Geschichte, die Gegenwart und die Zukunft, um sich auf ein neues, besseres, sehr globales Herrschaftssystem zu einigen. Sozialtheorie, Systemtheorie, Politikwissenschaft, Geschichte, Philosophie, Wirtschaftswissenschaften und selbst die Ludologie sollten dazu ihren Beitrag leisten. Die Demokratie als wandlungsfähigstes und offenes Herrschaftssystem ist offensichtlich die beste Basis dafür, weil auch in ihr die Kraft liegt, nationale Engstirnigkeiten zu überwinden.
Was hat dieser gedankliche Ausflug zur allgemeinen Demokratie mit der innerparteilichen Besetzung einer Bundestagskandidatur im Wahlkreis 1 in einem Landgasthof in Tarp zu tun? Von der Makro- wieder zurück auf die Mikroebene.
Spielregeln der Demokratie
Im Vorhof der allgemeinen, freien, demokratischen Wahl wählen die Parteien ihre Kandidaten. Wahlberechtigt sind alle 2.243 Parteimitglieder innerhalb des Wahlkreises Flensburg-Schleswig. Nun werden diese Mitglieder jedoch nicht per Brief, eMail oder auf einem anderen elektronischen Weg aufgefordert, ihre Stimme abzugeben. Sie erhalten lediglich einen Einladungsbrief nach Hause geschickt. Dieser Zettel fordert sie auf, im Landgasthof in Tarp persönlich am 11. Juli um 19 Uhr zu erscheinen. Dort erhalten sie dann ihre gedruckte Stimmkarte. 455 Mitglieder sind aus dem gesamten Kreisgebiet nach Tarp angereist. Sie haben ihre beruflichen, familiären oder persönlichen Hindernisse überwinden können, sie folgtem dem Lockruf der Demokratie, der Möglichkeit, in einem Gemeinschaftserlebnis bei Bier und stickiger Luft, ihre Stimme aktiv abgeben zu können. Somit waren 20,29% der wahlberechtigten Mitglieder anwesend, die eine Kandidatin oder einen Kandidaten wählen konnten. Die große Mehrheit (79,71%) war verhindert oder uninteressiert. Muss das so sein? Wäre eine direkte Mitgliederbefragung nicht „demokratischer“? Als Wahlentscheidungskriterium kristallisiert sich somit im wahrsten Sinne des Wortes die „Mobilisierung“ einer eigenen Anhängerschaft heraus.
Wahltaktik „Mobilisierung“
Diese Mobilisierung von Mitgliedern kann zu einer entsprechenden Wahltaktik führen. Wenn einem Kandidaten die Trägheit des Mitgliederwahlvolkes bekannt ist, dann reicht es vielleicht aus, seinen erweiterten Freundeskreis, den Fußballverein oder auch Facebookfreunde, wenn auch nur kurzfristig, zu Parteimitgliedern zu machen, wenn sie denn reisewillig sind. Ein solches Vorgehen verändert schlagartig die bestehende Vertrauensstruktur. So geschehen, z.B. bei der Kandidatenaufstellung zur Landtagswahl in Schleswig-Holstein 2016. Im Wahlkreis Dithmarschen-Schleswig sollte eine Kandidatin, ein Kanditat gefunden werden. Heike Franzen war für diesen Wahlkreis seit 11 Jahren im Landtag, sie war bei den bisherigen Mitgliedern bekannt und beliebt. Jetzt wollte sie der Bürgermeister aus Erfde, Thomas Klömmer, ablösen.
Wenn denn die physische Anwesenheit von persönlichen Vertrauenspersonen für eine Wahl ausschlaggebend ist, so kann eine Wahltaktik sein, die Mitgliederstruktur durch Parteieintritte aktiv für sich persönlich als Kandidat beeinflussen zu wollen. So geschehen z.B. im Vorfeld der Wahlkreismitgliederversammlung zur Landtagswahl, es wurden 80 Neumitglieder als Klömmer-Anhänger begrüßt, die auch gerne am Abend anwesend waren. Der Artikel von Alf Clasen im sh:z dazu „Fragwürdige Unterstützung“ und von Andreas Popien im Hamburger Abendblatt: „Wahl-Tricksereien„. Aber auch die „andere Seite“ war aktiv und akquirierte kurzfristig Mitglieder eines Fußballvereines, aber wohl eben weniger.
Bekräftigung der Voreingenommenheit („confirmation bias“).
Die Rechnung